Auf einem Teich wächst eine Seerose. Diese Seerosenart hat die Eigenschaft, dass aus jedem Exemplar binnen vierundzwanzig Stunden ein neues entsteht (und das alte erhalten bleibt). Nach einem Tag sind es also zwei Seerosen, nach zwei Tagen derer vier, und so weiter. Nach 48 Tagen ist der ganze Teich bedeckt. Nach wievielen Tagen war der halbe Teich zugewachsen?

Der Volksmund behauptet, die meisten Menschen beantworteten diese Frage falsch. (Leider fand ich keine Quelle, die dies mittels seriöser Untersuchung bestätigt. Ich kann es mir aber gut vorstellen.)

Szenenwechsel. Momentan sind jeden Tag viele Politiker und Politikerinnen sowie Fachleute „überrascht“ oder „schockiert“ über die plötzlich rasant ansteigenden Fallzahlen von COVID-19 und seit kurzem auch über den plötzlich ebenfalls zunehmenden Bedarf an Spitalbetten. Diese kollektive Überraschung scheint den bekannten Ausspruch des amerikanischen Physikers Al Bartlett zu bestätigen: „Das grösste Manko der Menschheit ist unsere Unfähigkeit, die Exponentialfunktion zu verstehen.“ Ich denke nicht, dass hier eine prinzipielle Unfähigkeit vorliegt, sondern dass das Problem bei mangelhafter Bildung und Ignoranz liegt. Es lief doch etwas schief bei den Ausbildungen der Personen, die in letzter Zeit quasi öffentlich demonstrierten, dass sie keinen blassen Schimmer von exponentiellem Wachstum haben oder die logarithmischen Skalen in ihren eigenen Veröffentlichungen nicht lesen können.

Die Sache ist so schwierig aber nicht. Das Seerosenbeispiel macht deutlich, dass man das Prinzip des exponentiellen Wachstums Primarschülern anschaulich erklären kann. Warum tut man das nicht? An mangelnder Wichtigkeit kann es ja nicht liegen. Ist vielleicht diese Wichtigkeit den Menschen, die Lehrpläne und Lehrmittel schreiben, nicht bewusst? Oder noch schlimmer: Haben die selbst keine Ahnung von Exponential- und Logarithmusfunktionen? Könnte sein.

Zum Glück kann man ja lebenslang lernen, und besagte Thematik kann sich ein durchschnittlich gebildeter Mensch wohl an zwei Nachmittagen erarbeiten. Es wäre also nicht so unfair, in den Ausschreibungen für verantwortlungsvolle Posten „Kenntnisse von Exponentialfunktionen“ zu fordern. Ignoranz ist nämlich keine Tugend, auch nicht wenn es um Mathematik geht.

P.S. Nach wievielen Tagen war denn jetzt eigentlich dieser Seerosenteich zur Hälfte zugewachsen?